Reichskanzlei – Projektbeschreibung

Zum Bezug zwischen Geschichte und Gegenwart

Ob sich einer der vielen Berlintouristen oder Berliner schon einmal Gedanken darüber gemacht hat, ob die Gestaltung des Berliner Bundeskanzleramtes mit seiner optischen Anlehnung an die Alte Reichskanzlei von dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl so gewünscht wurde? Wollte er durch die Art der Gestaltung seines Wohn – und Amtssitzes eine Ära weiterführen? Oder hatte er dem Architekten für die Gestaltung freie Hand gelassen und es ist reiner Zufall, dass der offizielle Wohnsitz des Bundeskanzlers mit seinen dort für ihn reservierten Arbeits- und Repräsentationsräumen äußerlich stark der Alten Reichskanzlei in der Wilhelmstraße 77 ähnelt?
Fakt ist, dass das Bundeskanzleramt mit seinem überhöhten Mittelbau mit niedrigeren Seitenflügeln, dem abgezäunten Ehrenhof, dem Vordach und der Skulptur im Ehrenhof wie eine Hommage an die Alte Reichskanzlei wirkt, die 1878 bis 1945 von den deutschen Reichskanzlern als Wohn- und Arbeitsort genutzt wurde. An diesem Beispiel zeigt sich, dass Geschichte nicht durch den Abriss von Gebäuden nachträglich veränderbar ist, jedoch für nachfolgende Generationen schwerer interpretierbar wird.

Die Wechselwirkung zwischen Architektur und der deutschen Geschichte am Beispiel der Reichskanzlei  

Ein Gebäude ist hauptsächlich erst einmal ein Baukörper mit architektonischen Elementen.
Architektur hat jedoch sehr viel mit persönlichem Geschmack zu tun. Das Gebäude der Reichskanzlei ist ein gutes Beispiel, um zu zeigen, wie unterschiedlich die Architektur von den unterschiedlichen Bewohnern des Hauses eingesetzt wurde. Da die Reichskanzlei von ihnen ständig erweitert wurde, kann an ihrer Architektur die Entwicklung verschiedener architektonischer Stilrichtungen erforscht werden. Neben seiner geschichtlichen Bedeutung war die Reichskanzlei damit auch ein Gebäude, an dem verschiedene Architekten ihre künstlerischen Spuren hinterlassen hatten. Konrad Wiesend hat das Ursprungspalais, das später zur ersten Reichskanzlei wurde, errichtet und Karl Friedrich Schinkel gestaltete es Anfang des 19. Jahrhunderts für den polnischen Fürsten Anton Radziwill im Geschmack der Zeit grundlegend um. Später erweiterten namhafte Architekten wie Wilhelm Neumann, Ernst von Ihne, Eduard Jobst Siedler, Paul Ludwig Troost, Leonhard Gall und Albert Speer das Gebäude jeweils im Geschmack der Zeit. 
Sie waren es aber auch, die das architektonische Bühnenbild entwarfen, mit dessen Hilfe die deutschen Reichskanzler ab 1878 ihren politischen Anspruch in der Welt optisch zu unterstreichen versuchten. Die Umbauten verraten daher, wie die verschiedenen Reichskanzler von der Öffentlichkeit gesehen werden wollten und lassen durch eine Analyse der Architektur Rückschlüsse auf die verschiedenen Charaktere der Bauherren zu.

 

Die Notwendigkeit einer wissenschaftlichen Aufarbeitung

Eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Baugeschichte der Reichskanzlei wurde in Deutschland, von offizieller Seite, nie vorgenommen. Da das öffentliche Interesse an dem Bauwerk dadurch jedoch nicht weniger wird, überlässt man die Geschichtsaufarbeitung daher vor allem privaten TV-Produktionen, die dann oftmals Fiktion und Wirklichkeit nach Belieben vermischen, um Einschaltquoten und „Likes“ zu generieren. Dadurch wurde das Gebäude in den vergangenen Jahren zum Mythos verklärt und ausschließlich auf seine Rolle in der Zeit des Nationalsozialismus und den Ort des Führerbunkers reduziert. 
Die weltpolitische Rolle des Gebäudes und die seiner Bewohner, wie z.B. Schulenburg, Radziwill, Bismarck und Ebert, werden ignoriert, um auf der ewigen Suche nach Adolf Hitler wieder und wieder nach versteckten Fluchttunneln und Bunkern zu suchen. 
Durch die 3D-Rekonstruktion des Gebäudes wird es in Zukunft möglich sein, historische Ereignisse besser einzuordnen und den Verklärungen historisch fundierte Tatsachen gegenüberzustellen. Aussagen und Theorien von verschiedenen Zeitzeugen, Autoren und Journalisten können nun am rekonstruierten historischen Ort auf ihre Schlüssigkeit überprüft werden. Der Vergleich ihrer Aussagen mit den tatsächlichen Begebenheiten am Ort des Geschehens lässt manche Behauptungen dadurch in einem neuen Licht erscheinen. Eine Reise zurück in der Zeit und die Möglichkeit, selbst durch das historische Gebäude zu laufen, wird dabei helfen, historisch interessierten Menschen Geschichte und Architektur intensiver als je zuvor vermitteln zu können und diese dabei selbst zu Augenzeugen einer längst vergangenen Zeit zu machen.

Die 3D- Rekonstruktion der Reichskanzlei als experimentelle Archäologie

Am Beispiel der Reichskanzlei ist gut zu erkennen, wie schwer es ist, einen historischen Ort allein anhand von historischen Plänen und Fotos verständlich zu machen. Es gibt unzählige Bücher, journalistische Berichte und Dokumentationen, die sich mit der Geschichte des Gebäudes beschäftigen. Nur wenige diese Publikationen gehen jedoch darauf ein, dass die Baugeschichte des Gebäudes bis in das Jahr 1733 zurückgeht. Ignoriert man aber das Ursprungsgebäude, dann ist eine Interpretation der später unter den Reichskanzlern entstandenen Erweiterungsbauten nicht möglich. 
Zu dieser Erkenntnis ist der Autor des hier präsentierten Projektes gekommen, da er sich den Aufwand gemacht hat, das Gebäude digital zu rekonstruieren. Die 3D – Rekonstruktion wurde so nicht nur zum bildgebenden Mittel, sondern, ähnlich der experimentellen Archäologie, zu einem eigenständigen wissenschaftlichen Werk. Während dieser Rekonstruktion konnten viele zuvor in Büchern behauptete Thesen zur Baugeschichte der Reichskanzlei widerlegt werden. Denn durch den Nachbau anhand der überlieferten Baupläne war es möglich zu erkennen, ob diese tatsächlich als Bauplan dienten oder ob sie nur Vorentwürfe oder spätere Rekonstruktionen darstellten. Weiterhin werden für die für dieses Projekt vorgenommene 3D- Rekonstruktion tausende Fotos miteinander verglichen. Dadurch wurden ständige bauliche Veränderungen an dem Gebäude festgestellt, die bisher unbekannt waren. Während der Arbeit an diesem Projekt hat sich weiterhin herausgestellt, dass die 3D – Rekonstruktion eines historischen Ortes nicht allein Grafikern überlassen werden darf. Ein Grafiker hat oftmals nicht das nötige wissenschaftliche Verständnis der historischen Bausubstanz und so entstehen 3D – Rekonstruktionen, die für wissenschaftliche Arbeiten ungeeignet sind, da sie Nebensächlichkeiten betonen, die dem Grafiker optisch interessant erschienen, jedoch keiner Rekonstruktion im wissenschaftlichen Sinne entsprechen.
In dem Projekt der Rekonstruktion der Reichskanzlei wird daher auf übertriebene optische Effekte verzichtet. Das Bauwerk und die möglichst genaue Rekonstruktion stehen im Vordergrund der Arbeit, um historisch Belegtes nicht mit Fiktion zu vermischen.